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»Pendelbewegungen« – Erkundungen im Spannungsfeld musikalischer und Politischer Bildung

Transdisziplinäre Ringvorlesung an der PH Weingarten
im Sommersemester 2021


Dass Musik eine politische Macht zugeschrieben wird, weiß jeder, der die biblische Geschichte von der Landnahme Israels im Buch Josua kennt (Jos 6), in der Posaunen die Mauern von Jericho zum Einsturz bringen. Diese Zuschreibung findet sich in verschiedenen kulturellen Zusammenhängen. Zu denken wäre beispielsweise an die griechische Sage von Orpheus, der mit seinem überirdisch schönen Gesang die Götter der Unterwelt dazu brachte, ihm seine geliebte Eurydike zurückzugeben. Auch im Mythos der Yahuna-Indios werden die ansonsten gültigen Regeln, die von allen geteilten Erfahrungen, in ihrer Gültigkeit suspendiert. Mit den Klängen seiner Flöte scheint der Knabe Milomaki die Macht zu haben, über Tod und Leben zu gebieten: Menschen, die ihn hören, fallen tot um, und es wachsen Früchte an den Bäumen, die es vorher nicht gab und deren Entstehen an die Flötentöne geknüpft wird.

Musik erscheint in allen diesen Erzählungen als Verheißung, als Mittel, die Verhältnisse der Welt auf den Kopf zu stellen, sie aus den Angeln zu heben, ihre Regeln aufzuheben oder gar zu überwinden. Daran knüpft sich eine tiefe menschliche Sehnsucht: dass die Menschen und die Welt verwandelt werden, dass alles sich zum Guten ändere. So erklärt sich auch, wie »Wind of Change« von den Scorpions zum Soundtrack der epochalen Umwälzungen der Jahre 1989/1990 werden konnte und bis heute als »Sound of Change« firmiert. Ganz konkrete politische Änderungen werden mit diesem Song verknüpft. Dagegen mahnt jedoch schon der Sirenengesang in der Odyssee als Versinnbildlichung der Verschränkung von Mythos mit bzw. dessen Verkehrung als Aufklärung (Horkheimer & Adorno 2001) vor einer allzu optimistischen Lesart. Keinesfalls lässt sich also Musik hinsichtlich ihrer gesellschaftlichen Wirkung oder der mit ihr verbundenen politischen Ansprüche generell auf vordergründig und oft unbestimmt »Politisches« beschränken. Noch viel weniger lässt sich – trivial, aber nicht selbstverständlich – Musik auf ein (wie auch immer definiertes) »gutes« politisches Ziel eng führen. Bereits ihre Funktionalisierung in den Zivilisationsbarbareien des 20. Jahrhunderts spricht da eine deutlich andere Sprache. Folgt man Konrad Paul Liessmann (1999), stellt sich nämlich die Frage, ob es nicht von vornherein dem Wesen von Musik als Kunst widerspricht, politischen Idealen wie dem der politischen Verantwortung oder etwa der Demokratie(förderung) zu genügen, denn Liessmann zufolge sei Demokratie „kein Anliegen der Kunst“ (ebd., 15). Regelmäßig erheben Künstler*innen für ihre Produkte „Ansprüche auf das Singuläre, das sich dem Willen einer Mehrheit nicht beugen kann“ (ebd.). Überdies trage „die Kunst, aber auch nur die Kunst […] keine politische oder moralische Verantwortung“ (ebd., 23), was sich letztlich gleichermaßen aus der Freiheit der Künstler*in wie dem Wesen von Kunst selbst ergeben würde. Gerade aber diese Anmaßung, der singuläre Anspruch ohne finalen Grund, ist hingegen konstitutiv für das Politische; er verweist zudem auf die verzweifelten Versuche Benjamins (2003), der Ȁsthetisierung des Politischen« als Signum einer letztlich antipolitischen Moderne durch die (Re-)Poli­tisierung der Künste entgegen­zutreten.

Angesichts dieser Ausgangslage scheint ein Dialog zwischen Musik­pädagog*innen und Politischen Bildner*innen geboten, drängt sich doch beispielsweise die Frage auf, ob die von Musikpädagog*innen postulierten Zielsetzungen anschlussfähig sind an die fachdidaktischen Diskurse innerhalb der Politischen Bildung und vice versa. Insofern fordert der Dialog mit der anderen Fachdidaktik auch dazu heraus, das je eigene Selbstverständnis zu konturieren.

Es wird ein zentrales Anliegen der Veranstaltung sein, zu prüfen, inwieweit überhaupt die verwendeten eigenen Begrifflichkeiten für die jeweils andere Disziplin anschlussfähig sind und welche Konsequenzen daraus abzuleiten wären.


Literatur:

Benjamin, Walter. Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit [1936]. In: ders. Drei Studien zur Kunstsoziologie. Frankfurt am Main 2003, S. 7–44

Horkheimer, Max & Adorno, Theodor W. Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente [1944]. Frankfurt am Main 200113

Liessmann, Konrad Paul. Angepasste Empörung – Über avantgardistische Kunst und politische Verantwortung in demokratischen Gesellschaften, in: Irmgard Bohunovsky-Bärnthaler (Hg.). Kunst und Demokratie. Vortragsreihe der Galerie Carinthia im Stift Ossiach. Klagenfurt 1999, S. 13–27

Termine:

  • #01 07.05.2021, 9:45-11:15:
    Der Traum ist aus: Vote – Voice – Welt (Sven Rößler)

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  • #02 21.05.2021, 9:45-11:15:
    Raum als ästhetische und politische Kategorie in der Neuen Musik: Musikwissenschaftliche Überlegungen und didaktische Implikationen (Johannes Voit)

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  • #03 04.06.2021, 9:45-11:15:
    Die Musikalität des Bürgerlachens (Claire Moulin-Doos)
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  • #04 11.06.2021, 9:45-11:15:
    Musizierpädagogik in Ver-Antwortung (Katharina Bradler)
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  • #05 18.06.2021, 9:45-11:15:
    Entfremdung – (An-)Aesthetik – Bildung: Überlegungen im Grenzbereich (Lukas Barth)
    Schnittstellen und Grenzen Politischer als Kultureller Bildung (Annegret Jansen)
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  • #06 25.06.2021, 9:45-11:15:
    Musikalisch überwältigt. Zum Umgang mit (rechts-)extremer Musik (Lars Oberhaus)
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  • #07 02.07.2021, 9:45-11:15:
    Die Welt zer-hören. Politische Akustemologie im Anthropozän (Werner Friedrichs)
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  • #08 09.07.2021, 9:45-11:15:
    Zwischen Baum und Borke: Funktionalisierung vs. Ästhetik, Vermassung vs. Solipsismus? (Christoph Stange)

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  • #09 16.07.2021, 9:45-11:15:
    Es ist nicht alles Musik, was klingt. Warum die Pendelbewegungen am Sound nicht vorbei schwingen können (Kerstin Meißner)

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  • #10 23.07.2021, 9:45-11:15:
    Gehen Sie (nicht) über Los? Crowd-Komponieren und aleatorische Demokratie (Andreas Höftmann)

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